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Interview: ÖPNV ohne Grenzen

„Multimodalität muss zum ‚New Normal' werden.“

Die Digitalisierung verändert unsere Mobilität und die verfügbaren Mobilitätsdienste grundlegend. Wie kann der ÖPNV von dieser Entwicklung profitieren und durch digitale Lösungen flexibler werden? Welche Voraussetzungen braucht es, damit multimodale Mobilität gelingt? Und welche Rolle spielen dabei Plattformlösungen? Diesen und weiteren Fragen ist das wDRIVE-Team im Gespräch mit Sylvia Lier, Expertin für Multimodalität und Geschäftsführerin von TAF mobile, nachgegangen.

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Foto: Philine Bach

Wie kann ein öffentlicher Verkehr aussehen, der für alle zugänglich, vernetzt und nachhaltig ist? Diese Frage stand im Fokus unserer digitalen Veranstaltung „wDRIVE-Impuls: ÖPNV ohne Grenzen – Die Bedeutung von Daten für ein integriertes Mobilitätsangebot“ am 25. März 2025. Mit Sylvia Lier, Geschäftsführerin von TAF mobile, haben wir über digitale Plattformen, Potenziale vernetzter Mobilitätslösungen und die Voraussetzungen für multimodale Angebote gesprochen.

wDRIVE: Sylvia, Du beschäftigst dich intensiv mit der Gestaltung multimodaler Mobilität – was bedeutet für dich persönlich ein ÖPNV ohne Grenzen?
Sylvia Lier: Bei einem ÖPNV ohne Grenzen steht die Verkehrsgesellschaft als Orchestrator ganzheitlicher Mobilität im Zentrum. Die Verkehrsgesellschaft versteht sich dabei nicht mehr nur als klassische Bus- oder Bahngesellschaft, sondern als umfassender Anbieter integrierter Mobilitätsservices. Ihre Aufgabe ist es, den Menschen Zugang zu sämtlichen Verkehrsmitteln und Mobilitätsdiensten zu ermöglichen – über eine eigene Plattform, die sämtliche Angebote einer Region intelligent vernetzt. So kombiniert sie ihr eigenes Portfolio mit Shared-Mobility-Diensten und weiteren Services. Über multimodale Apps erhalten die Kundinnen und Kunden in One-Stop-Shop-Manier sämtliche Informationen, können direkt buchen und bezahlen – mit nur einer Registrierung und einem hinterlegten Zahlungsmittel. Insofern steht für mich ein grenzenloser ÖPNV für: ein vernetztes, leicht zugängliches Mobilitätsökosystem, das den Umstieg vom privaten Auto auf den Umweltverbund mit Shared-Mobility-Diensten so einfach macht wie nie.

wDRIVE: Welche Rolle sollte multimodale Mobilität deiner Meinung nach in der künftigen Gestaltung des ÖPNV spielen, und inwiefern setzt ihr euch mit TAF mobile für diese Ziele ein?
Sylvia Lier: Multimodalität muss zum „New Normal“ werden. Es sollte selbstverständlich sein, dass Verkehrsgesellschaften ihren Kundinnen und Kunden den Zugang zu allen verfügbaren Mobilitätsangeboten ermöglichen, komfortabel, zuverlässig und aus einer Hand. TAF mobile entwickelt dafür die notwendigen Werkzeuge: Unsere cloudbasierte Mobilitätsplattform unterstützt Verkehrsunternehmen, Verbünde, Städte und Landkreise bei genau dieser Transformation. Sie umfasst alles von der Registrierung über die Bezahlung bis hin zur tiefen Integration unterschiedlichster Mobility-Service-Provider. Unsere Systeme sind anpassbar und erweiterbar, Sie wachsen flexibel mit den Anforderungen unserer Kunden. Besonders wichtig ist uns die nahtlose Nutzererfahrung: Die Kundinnen und Kunden sollen alles innerhalb einer App erledigen können, ohne Medienbrüche, ohne Absprünge. Denn genau das ist die Basis für eine breite Akzeptanz multimodaler Angebote.

 

„Multimodalität muss zum ‚New Normal' werden. Es sollte selbstverständlich sein, dass Verkehrsgesellschaften ihren Kundinnen und Kunden den Zugang zu allen verfügbaren Mobilitätsangeboten ermöglichen – komfortabel, zuverlässig und aus einer Hand.“

Sylvia Lier

Managing Director von TAF Mobile

wDRIVE: Du verstehst dich als Brückenbauerin, mit dem Ziel, aus der Vision der Mobilitätswende Realität werden zu lassen. Was sind nach deiner Erfahrung die größten Hürden, um innovative Mobilitätsangebote, wie etwa MaaS-Plattformen, flächendeckend umzusetzen?
Sylvia Lier: Entscheidend ist ein klares Leitbild für die Mobilität in Deutschland. Dafür müssen wir uns die Fragen stellen: Wie wollen wir in Zukunft unterwegs sein? Wie unabhängig sollen Menschen vom privaten Auto sein? Wie gestalten wir sichere und attraktive Räume für den Fuß- und Radverkehr? Und ganz grundsätzlich: Wer bekommt Vorrang in unseren Städten, der Mensch oder der motorisierte Verkehr? Ein gemeinsames Zielbild hilft, Kräfte zu bündeln und mutig voranzugehen. Daher verstehe ich mich auch als Brückenbauerin. Mein Anliegen ist es, Menschen zusammenzubringen, Wissen zu teilen und vor allem guten Beispielen Sichtbarkeit zu verschaffen. Deshalb haben wir unsere Webinar-Reihe „Öffis go multimodal “ ins Leben gerufen. Seit Anfang 2023 haben wir damit über 1.500 Teilnehmende erreicht. Brücken bauen, vernetzen, Treiberin der Mobilitätswende sein, dafür steht nicht nur meine persönliche Motivation, sondern auch das Team von TAF mobile.

wDRIVE: Kannst du dir ein „Deutschlandticket-plus“ vorstellen, das auch geteilte Mobilitätsangebote integriert? Und wenn ja: Welche Rahmenbedingungen wären dafür notwendig?
Sylvia Lier: Absolut, das wäre die logische Weiterentwicklung eine multimodale Flatrate. Pilotprojekte gibt es bereits, etwa in Augsburg oder beim Anbieter Allride. Auch internationale Vorbilder wie das „Whim“-Produkt aus Finnland zeigen, dass solche Modelle grundsätzlich realisierbar sind. Voraussetzung dafür ist ein flächendeckendes, attraktives Shared-Mobility-Angebot. Heute gibt es in Deutschland über 250 Anbieter– eine beachtliche Zahl, allerdings mit großen regionalen Unterschieden. Ein „Deutschlandticket-plus“ hätte daher je nach Region sehr unterschiedlichen Nutzwert. Ich persönlich würde zunächst aber einen anderen Schritt priorisieren: Das Deutschlandticket ist bis 2029 gesichert – das ist ein Riesenerfolg. Jetzt sollten wir gemeinsam bundesweit einheitliche Produktstandards definieren: etwa Mitnahmeregelungen für Personen und Fahrräder oder die Übertragbarkeit des Tickets. Das würde das Ticket attraktiver machen und weiteres Wachstum ermöglichen. Aktuell gibt es rund 13,5 Millionen Nutzende des Deutschlandtickets, die Marke von 15 Millionen ist also in greifbarer Reichweite!

wDRIVE: Sind Barrierefreiheit und Multi-/Intermodalität ein Widerspruch? Wie lassen sich beide Punkte in Einklang bringen? 
Sylvia Lier:  Schon der klassische ÖPNV ist an vielen Stellen weit entfernt von echter Barrierefreiheit. Fehlende Fahrstühle, lange Wege, unübersichtliche Umstiege: Für viele Menschen, nicht nur für Menschen mit Behinderung, sind das oft unüberwindbare Hürden. Ich selbst reise viel mit öffentlichen Verkehrsmitteln, meistens mit großem Koffer. Und dabei fällt mir immer wieder auf, wie mühsam die Wege oft sind. Vor allem wenn wir an Rollstuhlfahrende oder Eltern mit Kinderwagen denken, zeigt sich, dass wir noch einen weiten Weg vor uns haben. Ein beeindruckender Blick auf dieses Thema bietet der Film „Mobility is a Human Ride“ von Kristian Gründling. Wenn Menschen darin sagen, ihre Behinderung sei nicht das Problem, sondern die mangelnde Zugänglichkeit der Mobilität, dann sollte uns das sehr zu denken geben.

wDRIVE: Wie können multimodale Angebote auch in weniger dicht besiedelten Regionen gelingen, damit die Mobilitätswende nicht nur im urbanen Raum stattfindet? 
Sylvia Lier: Realistisch betrachtet wird das persönlich besessene Auto im ländlichen Raum auf absehbare Zeit dominieren. Dünn besiedelte Regionen können wir nicht mit klassischen ÖPNV-Angeboten im 60- oder sogar 30-Minuten-Takt bedienen. Das wäre finanziell nicht machbar. Aber wir dürfen diese Regionen nicht abhängen: Gerade für Menschen, die sich kein eigenes Auto leisten oder aus Alters- und Gesundheitsgründen nicht mehr selbst fahren können, brauchen wir flexible Angebote. Bedarfsverkehre wie On-Demand-Shuttles oder ÖPNV-Taxis sind hier gute Lösungen. Die Mobilitätsversorgung im ländlichen Raum werden wir erst mit der Markteinführung autonom fahrender Fahrzeuge auf ein völlig neues Niveau heben können. Nichtsdestotrotz gilt es, die heute bestehenden Möglichkeiten aktiv zu nutzen.

wDRIVE: Was wünschst Du dir für die kommenden fünf Jahre, um vernetzte, multimodale und digitale Mobilitätsangebote in Deutschland zu fördern?
Sylvia Lier: Ein klares ja von der Bundespolitik für eine echte Mobilitätswende wäre unser größter Wunsch. Damit einher geht eine Bereitstellung von Mitteln für den dringend erforderlichen Ausbau des ÖPNV. 
Darüber hinaus wünsche ich mir, dass gezielt Fördermittel für vernetzte, multimodale und digitale Mobilitätsangebote bereitgestellt werden. Wenn wir wollen, dass Menschen auch ohne eigenes Auto klimagerecht und komfortabel mobil sind, brauchen wir diese Lösungen dringend. Dafür werde ich mich, gemeinsam mit vielen anderen, weiterhin mit voller Energie einsetzen.

Die im Gespräch thematisierten Herausforderungen und Chancen für einen „ÖPNV ohne Grenzen“ werden auch durch verschiedene mFUND-Projekte aufgegriffen. Folgende Projektbeispiele zeigen, wie Daten- und KI-Innovationen zu einer zukunftsorientierten Entwicklung eines attraktiven ÖPNV beitragen können:

TransFairTarif

Kundenzentrierte, multimodale Tarif- und Zonenoptimierung für Linien- und On-Demand-Verkehre mit Methoden der KI

Das Projekt TransFairTarif entwickelt ein KI-gestütztes Tool zur nutzendenfreundlichen Vereinheitlichung von Tarifstrukturen für Linien- und On-Demand-Verkehre.

TransitOrchestrator

Tiefenintegration von On-Demand-Fahrzeugen in den Linienverkehr per intelligentem Betriebssystem

Das Projekt TransitOrchestrator verfolgt das Ziel, ein intelligentes Betriebssystem zu schaffen, das individuelle Fahrtangebote über verschiedene Verkehrsformen hinweg dynamisch orchestriert.

BaAN-frei

Barrieren Analyse-frei

Mit dem Projekt BaAN-frei wird ein Trackingsystem entwickelt, um Barrieren im öffentlichen Raum zu erfassen und die gesellschaftliche Teilhabe für Rollstuhlnutzende durch KI-basierte Analysen spürbar zu verbessern.

Das wDRIVE-Netzwerk organisiert regelmäßig Veranstaltungen, die fachlichen Austausch und Vernetzung fördern. In der Veranstaltungsreihe „wDRIVE-Impuls“ greifen wir gemeinsam mit Expertinnen aktuelle Themen mit Bezug zu Dateninnovationen und Mobilität auf und beleuchten diese aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Bisher standen unter anderem der Gender Gap in der Mobilität, Gründungserfahrungen sowie das Thema „ÖPNV ohne Grenzen“ im Mittelpunkt. Der nächste Impuls widmet sich dem Schwerpunkt „Künstliche Intelligenz“.

Wer auf unseren wDRIVE-Verteiler möchte, schreibt bitte eine kurze E-Mail an mPACT@mfund.de mit dem Betreff „mFUND-Frauennetzwerk“.
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Kontakt: 

wDRIVE – das mFUND-Frauennetzwerk
Women for Datadriven Mobility
Dr. Katja Karrer-Gauß & Dr. Christina Wolking
wDRIVE@iit-berlin.de

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