GehwegNavi: Mit dieser Technik kommt der autonome Verkehr auf Gehwegen ins Rollen
Reinigungsmobile, Lieferroboter und digitale Blindenführhunde: Autonome Mikromobile könnten Gehwege bald gemeinschaftlich mit Fußgängerinnen und Fußgängern nutzen. Die Basis dafür liefert das mFUND-Projekt „GehwegNavi“, in dessen Rahmen Forschende in Hamburg Daten sammeln, um den Verkehr auf Gehwegen zu optimieren.
Ein Lieferwagen hält am Straßenrand. Ein Paketbote kommt heraus, holt einen Karton aus dem Laderaum und schlängelt sich zwischen Passanten hindurch. Er klingelt an einer Haustür, gibt die Sendung ab und spurtet zurück zum Auto. Liefervorgänge wie dieser sind auf Gehwegen in Deutschland überall zu sehen – und seit dem Aufkommen des Online-Handels kaum wegzudenken. Was jedoch neu ist: In naher Zukunft könnten autonome Roboter diesen Job erledigen. Auch selbstgesteuerte Reinigungsfahrzeuge sowie autonome Mikromobile, die Pizzen oder Lebensmittelbestellungen ausliefern, könnten auf Gehwegen ihre Arbeit verrichten. Der Verkehr auf dem Gehweg steht vor einer Veränderung.
Mit der Automatisierung sind viele Chancen verbunden – davon ist Logistik-Professor Dr. Henner Gärtner von der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg (HAW Hamburg) überzeugt: „Wenn das autonome Fahren von Mikromobilen über die Straße hinaus den Gehweg inkludiert und somit bis zur Haustür funktioniert, dann kann die sonst so personalintensive Letzte-Meile-Logistik zu günstigen Kosten realisiert werden“, so Gärtner. „Und wenn wir auf gleiche Weise eingeschränkten Personenanforderungsgerechte Mikromobile für den Gehweg bereitstellen, dann erlangen Blinde ein erhebliches Maß an Eigenständigkeit zurück und Senioren können um riskante Stolpergefahren sicher herumgeführt werden.“ Henner Gärtner, das wird schnell klar, ist Verfechter des automatisierten Gehwegverkehrs. Er ist auch derjenige, der die Grundlage dafür schafft: Daten. Im Rahmen des Forschungsprojekts „GehwegNavi“ der HAW Hamburg führt das Team des Professors im Department Maschinenbau und Produktion alle relevanten Informationen über Gehwege zusammen – vom Verlauf der Gehwege bis hin zu potenziellen Hindernissen wie Poller, Verkehrsschilder und Briefkästen.
Aus mehr als 11.000 Datenquellen der vom Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV) geförderten Innovationsinitiative mFUND kann das Team der HAW Hamburg schöpfen und macht sie gebündelt verfügbar. Gärtner navigiert durch diesen Dschungel an Hindernissen, die Gehwege so mit sich bringen, indem er in die verbleibenden freien Flächen ein virtuelles Schienennetz hineinprojiziert. Auf diesen Wegen steuert er plangemäß, wenn nichts anders dazwischenkommt. Doch wenn ein Kind oder ein Hund vor die Sensoren läuft, dann fängt es unter der Haube des Mikromobils an zu surren und eine Ausweichstrecke wird gefunden.
11.060
Datenquellen
stellt das Bundesministerium für Digitales und Verkehr in ihrer „Mobilithek“ öffentlich bereit. (Quelle: Mobilithek Plattform des BMDV)
4,18 Mrd
Pakete
wurden 2023 in Deutschland ausgeliefert. (Quelle: Kurier-, Express- und Paketdienstleister (KEP)).
Wie gut der „GehwegNavi“ funktioniert, wird an der HAW Hamburg mit einem Assistenzsystem getestet, das Gärtner auch als digitalen Blindenführhund bezeichnet. Der sogenannte „Shared Guide Dog 4.0” ist ein autonomes Mikromobil, das Menschen mit Seheinschränkungen entlang einer festgelegte Route führt und den Blindenstock ersetzt. Der „Shared Guide Dog 4.0“ sieht aus wie ein futuristischer Rollator. Elektrisch angetrieben steuert er das Ziel an, welches Nutzende per Handy-App angeben. Auf seinem Weg muss das Mikromobil viele spontan auftauchende Objekte erfassen und umfahren. Dazu zählen beispielsweise Pfützen, Radfahrer, spielende Kinder oder tobende Hunde. Planmäßig werden die fest installierten Objekte wie Briefkästen, Fahrradständer und Bushaltestellen detektiert und umschifft. Damit das gelingt, verfügt der digitale Blindenhund über moderne Technik: unter anderem über einen Laserscanner, eine Kamera und Radsensoren. Außerdem ist er mit einem GPS ausgestattet. Letzteres ist für das Bestimmen der aktuellen Position auf dem virtuellen Schienennetz des „GehwegNavi“ wichtig, damit der „Shared Guide Dog 4.0“ seinen Weg zum Ziel findet. Das Testen des digitalen Blindenführhundes erfolgt teilweise beim Blinden- und Sehbehindertenverein Hamburg (BSVH) und auf dem Gelände der Seniorenresidenz Augustinum.
Der Großteil der Erprobung findet jedoch vor allem auf der so genannten Teststrecke für Automatisiertes und Vernetztes Fahren (TAVF) statt – „unser Haus- und Hof-Testgebiet“, wie Henner Gärtner es nennt. Das aus mehr als 200 Kreuzungen bestehende Streckennetz befindet sich inmitten der Hamburger Innenstadt zwischen der Elbphilharmonie und der Edmund-Siemers-Allee. Damit ist es Teil des Realverkehrs. In dieser Zone umkurvt der Roboter Hindernisse wie Sitzbänke und Verkehrsschilder und bremst – wie vorgesehen – an roten Ampeln. Bei einer grünen Fußgängerampel empfängt der Roboter zusätzlich Nachrichten. Letztere informieren beispielsweise über ein rechts abbiegendes Auto, das sich dem Fußgängerüberweg nähert, den die blinde Person gerade überqueren will. Andersherum wird das Auto auf die besonders schützenswerte blinde Person – ein so genannter „vulnerabler Verkehrsteilnehmer“ – aufmerksam gemacht. Das könnte beispielsweise mittels einer Kollisionswarn-Technik gelingen, die Pkw vor Zusammenstößen mit dem „Shard Guide Dog 4.0“ und demnach auch vor Unfällen mit der Begleitperson warnt.
„Der robuste Betrieb muss sauber und ausfallsicher funktionieren. Wir müssen das komplexe Zusammenwirken mehrerer Sensoren mit zahlreichen Szenarien testen.“
Abseits von Testgebieten fahren autonome Mikromobile noch nicht. Dafür fehlt ihnen die Marktreife. Wann könnte es so weit sein? „Das ist nicht klar zu sagen“, berichtet Gärtner. Es gelte, die Technologie weiter zu entwickeln. „Der robuste Betrieb muss sauber und ausfallsicher funktionieren. Wir müssen das komplexe Zusammenwirken mehrerer Sensoren mit zahlreichen Szenarien testen, wie uns Hindernisse in die Quere kommen können. Die ‚technological readyness‘, die die Automobilindustrie mit tausenden Ingenieurinnen und Ingenieuren erlangen will, haben wir für uns auch noch nicht erreicht.“ Als große Herausforderung für das Einführen des automatisierten Gehwegverkehrs sieht Gärtner vor allem die rechtlichen Hürden, die auch die Automobilindustrie noch nicht überwunden hat: „Wer haftet im Schadensfall?“ Gleichzeitig betont der Logistik-Professor, dass die Entwicklungen in Deutschland im internationalen Vergleich weitfortgeschritten sind. „Auf unserer Hamburger Teststrecke testen wir zusammen mit Volkswagen, Continental oder der Telekom.“ Irgendwann, davon ist der Projektleiter von „GehwegNavi“ überzeugt, werden selbstgesteuerte Mikromobile wie der digitale Blindenführhund selbstverständlich zum Alltag auf Gehwegen gehören.